stockdunkel, ohne Schnee und dennoch zauberschön


„Sie gehen jetzt sofort von meinem Roller weg“, kreische ich. Ja, ich kreische.
Ich war selbst überrascht von meiner schrillen Tonlage, und auch der angetrunkene Mann schien eingeschüchtert. Zumindest hält er kurz inne, sodass ich den Moment nutzen kann, um hastig den Motor zu starten und mit zittrigen Beinen wegzufahren.
Ein panischer Schrei vor zwei Jahren nachts am Bahnhof: An genau diesen Aufschrei musste ich denken, als ich neulich auf meiner Solo-Wanderung im Schwedenwald unterwegs war. Eine tiefe Nebelschicht verschluckte die Baumkronen und es war trotz Mittagszeit nur schummrig hell. Ich folgte schon seit einigen Kilometern einem kleinen Pfad durch den dichten Wald. Und dann standen sie plötzlich vor mir: zwei Rehe. Ich erschrak fürchterlich. Die beiden auch. Andere hätten bei diesem tierischen Anblick wahrscheinlich entzückt „Oh, süüüüß“ gerufen. Ich hingegen war kurz davor, loszuheulen und schrie sie entsprechend panisch an: „Ihr geht jetzt sofort weg, ich war hier zuerst!“
Mein Kreischen funktionierte erneut.
Die Rehe verschwanden.




Ein Jahr Schwedenhaus-Besitzerin
Angetrunkene Männer und Tiere haben eins gemeinsam: Sie machen mir Angst, wenn sie mir zu nahekommen. Tiere kommen mir eigentlich immer zu nahe. Die müssen mich nur angucken, und ich würde am liebsten weglaufen. Mit Tieren meine ich Hamster, genauso wie Hühner. Hunde sowieso. Ich denke immer wieder darüber nach, ob es nicht ein sinnvoller Jahresvorsatz für mich wäre, „tierisch“ zu lernen, also mir Mühe zu geben, die Tierwelt zu verstehen. Aber ich bin zu faul. Und so lasse ich die Tiere Tiere sein und hoffe Jahr für Jahr, dass ich wenigen von ihnen begegne. Das hat auch ganz gut geklappt, zumindest bis zum Jahr 2024. Bis ich beschloss, ein Schwedenhaus im Wald zu kaufen – und damit ja quasi freiwillig in die Nachbarschaft der Waldtiere gezogen bin.
Manchmal frage ich mich zurecht, welcher Elch mich bei dieser Entscheidung geritten hat 😀 und gleichzeitig weiß ich, dass die Entscheidung für das Schwedenhaus meine Beste im Jahr 2024 war. Waldtiere hin oder her. Hinter mir liegt ein wunderschöner langer erster Renovierungssommer, der nun zum Ende des Jahres durch ein noch schöneres Weihnachtsfest in Schweden gekrönt wurde. Es war so bezaubernd, dass diese Weihnachtserfahrung in Zukunft nur schwer zu toppen sein wird.


Schwedische Winterdunkelheit ist heftig
Aber von vorne: Als wir in der letzten Adventswoche von der Fähre gerollt kamen, erwartete uns in Schweden kein Schnee, sondern mildere Temperaturen, als wir in Deutschland hinter uns gelassen hatten. Graues Nieselwetter. Kein Bullerbü-Weiß. Kein Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen See. Ich habe es ehrlich gesagt nicht anders erwartet, aber trotzdem sehr mit meinem Sohn gelitten, der wochenlang für Schnee an Weihnachten gebetet hatte. Glücklicherweise gewöhnten wir uns alle schnell an die Wetterlage und das wahrscheinlich vor allem, weil wir uns im Land der Lichterketten-Profis aufhielten: Die Suppe kann noch so grau sein, die Menschen in Schweden kämpfen mit Ästhetik in Sachen Weihnachtsdeko gegen das Triste an. Und sie gewinnen.
Wenn du also mal richtig in Weihnachtsstimmung kommen möchtest, dann verbringe Zeit auf den Straßen Schwedens. Fahr an all den feinen Höfen vorbei und saug das himmlische Lichtermeer so richtig auf. Das ist echt anders schön, wirklich!


Apropos Wetter und Licht: Die graue Suppe sorgte bei uns nicht nur stimmungsmäßig für eine kleine Herausforderung. Denn eine dichte Wolkendecke bedeutet auch keine Sonne. Und keine Sonne bedeutet leere Batterien der Solaranlage am Schwedenhaus. Das wiederum bedeutet kein Strom, also auch keine Deckenbeleuchtung.
Da es bereits um 15 Uhr dämmrig wurde und um 16 Uhr dunkel war, musste ich schon am frühen Nachmittag Kerzen anzünden, um noch kochen, duschen oder lesen zu können. Wahnsinn, wie viele Kerzen es braucht, um eine Glühbirne zu ersetzen! Leute, ich sag’s euch, da steige selbst ich freiwillig von den edlen Interior-Stabkerzen zu den günstigsten Supermarktteelichtern um. Wenn dann auch noch keine Straßenlaterne oder Autoscheinwerfer im Umkreis aufleuchten, dann spürt man erst so richtig, wie dunkel die Winterdunkelheit im Schwedenwald wirklich ist: STOCKDUNKEL.


Ein Leben ohne Knöpfe
Diese Dunkelheit machte mir vor allem morgens zu schaffen. Im deutschen Zuhause betätige ich zwei Knöpfe, um mir mit den frühen Vögeln, aka den Kiddos, um 5 Uhr meine Dosis Koffein reinzupfeifen.
Klick 1: Lichtschalter.
Klick 2: Kaffeemaschine.
Im tiefsten Winter im Schwedenhaus gibt es diese Knöpfe nicht. Ich wanke stattdessen mit meiner Streichholzschachtel bewaffnet die steile Holztreppe vom Schlafzimmer in die Küche hinunter und dann weiter von Zimmer zu Zimmer, um das Haus in sanftes Kerzenlicht zu hüllen. Anschließend muss sich noch jemand um die Holzöfen kümmern. Meistens hat niemand am Vorabend daran gedacht, genug Holz vom Schuppen reinzuholen, und ich husche folglich im Schlafanzug raus. Natürlich inklusive Tierbegegnungsangst. Erst wenn alles langsam hell und warm wird, hat mein Koffein Priorität. In anderen Worten: Bis zum ersten Kaffee braucht es zu dieser Jahreszeit starke Nerven.




Ich dachte bei dieser langatmigen Morgenprozedur viel an die ersten Hausbesitzer, die dieses Traumgrundstück erworben und den Winter wohl ähnlich erlebt haben – zumindest in Bezug auf das Wärme-Licht-System. Die Tage damals waren sicherlich noch kürzer, weil Kerzen teuer waren und es als Luxus galt, bis 20 Uhr helle Räume zu haben. Ich dachte viel an ein Leben ohne Schalter und Knöpfe. Und ich bekam an diesen kurzen Weihnachts- und Wintertagen in Schweden eine Idee davon, wie das Leben auch sein kann:
Ein Leben, in dem es keine Geräte gibt, die einen wach und aktiv halten.
Ein Leben, in dem eine abgebrannte Kerze das Ende des Tages terminierte.
Wo der Winter auch für uns Menschen noch dazu da war, sich wie die Bäume einfach in Nebel einhüllen zu lassen und darin zugedeckt zu bleiben, bis die Sonne einen wieder wachküsst.
Eine Zeit, in der im Winter einfach weniger ging und das gesellschaftlich akzeptiert war. Ein Leben, in dem selbst an feierwütigen Tagen wie Weihnachten die Kerzen in derselben Geschwindigkeit abbrannten.


So haben wir Weihnachten gefeiert
Natürlich saßen wir an den Weihnachtsfeiertagen nicht bloß da und haben den Kerzen beim Abbrennen zugeschaut. Bei unserem Weihnachtfest in Schweden war von allem etwas dabei: viel Zurückgezogenheit und ebenso viel Gemeinschaft.
Wir schlugen unseren Weihnachtsbaum im eigenen Wald, erlebten herrlich schwedische Gesellschaft bei einem traditionellem Julbord Weihnachtsessen mit Nachbarn und schwangen das Tanzbein bei wilden Tänzen um den Weihnachtsbaum. Wir kauften die besten Zimtschnecken vom Lieblingskonditor in der Stadt als Geburtstagskuchen für Jesus und verstanden kein einziges Wort vom schwedischen Krippenspiel. Wir tranken viel Glögg auf unverschämt schönen Weihnachtsmärkten, aßen Würstchen vom Lagerfeuer an Heiligabend und selbstverständlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, im See Eisbaden zu gehen. Die Tage beendeten wir in der nun fertiggestellten Sauna im Haus bei ein, zwei oder drei Aufguss-Runden, perfekt.




Alles in allem war es herrlich entschleunigend und einfach. Es ist uns überraschend gut gelungen, überzogene Erwartungen an ein „perfektes Fest“ in Deutschland loszulassen und uns weniger mit gutem Essen und Geschenken zu beschäftigen, sondern mehr mit der Bedeutung von Weihnachten. Damit meine ich nicht die „Fest der Liebe und Tralala“-Bedeutung. Ich meine die Geschichte aus Bethlehem von der Geburt Jesu, die bis heute die Welt auf den Kopf stellt und so viel Hoffnung in Zeiten der tiefen Dunkelheit gibt. Irgendwie auch logisch, wenn man sich der Dunkelheit so sehr ausliefert, oder?


Wenn wir im späten Frühling wiederkommen, blühen hoffentlich schon die ersten kleinen feinen Blümchen auf unserer Waldlichtung. Wir werden noch den Weihnachtsbaum verbrennen müssen und uns wahrscheinlich über ein paar Wachsreste am Esstisch ärgern. Ich werde Pfefferspray mitbringen. Nicht, weil ich es wirklich jemals einsetzen möchte. Sondern, um mein Sicherheitsgefühl gegenüber Tieren auf Solo-Wanderungen zu trainieren. Und vielleicht hört man mich dann in Zukunft weniger panisch aus dem Wald hinausschreien, wenn ein Regenwurm meinen Weg kreuzt.
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